Trotz des großen nationalen Dialogs geht der Bürgerkrieg im anglophonen Teil Kameruns unvermindert weiter. Die Auseinandersetzung, die bis heute mehr als 1500 Opfer forderte, offenbart die ganze Misere Kameruns unter seinem Langzeitpräsidenten Paul Biya.
Kamerun galt jahrzehntelang als Stabilitätsanker Zentralafrikas und erfreute sich im Vergleich mit den krisengeschüttelten Nachbarländern relativen Wohlstands. Dieses Bild ist in den letzten Jahren ins Rutschen geraten. Die Krisen der Nachbarländer drohen auch Kamerun mit in den Strudel zu ziehen. Zu den Konflikten in den Grenzgebieten zu Nigeria, der Zentralafrikanischen Republik und dem Kongo, kommt eine interne Krise dazu – seit fast drei Jahren sorgen die Entwicklungen in den anglophonen Regionen Süd-West und Nord-West für massive Spannungen.
Was als ein friedlicher Protest anglophoner Anwälte und Lehrer um Teilhabe und Gleichberechtigung begann, hat sich zu einem Kampf um einen unabhängigen Staat ausgewachsen. Mehrere Rebellengruppen nehmen mittlerweile für sich in Anspruch, im Namen der Bevölkerung für die Unabhängigkeit des Zwergstaats „Ambazonien“ zu kämpfen. Ob dieses Ansinnen jenseits der europäischen Diaspora auch vor Ort mehrheitsfähig ist, lässt sich schwer beurteilen.
Die Wurzeln des Sprachenkonflikts zwischen frankophoner Mehrheit und anglophoner Minderheit reichen weit in die Kolonialgeschichte Kameruns zurück. Bei der Abwicklung des deutschen Kolonialreichs im Jahr 1919 wurde der Großteil der ehemaligen deutschen Kolonie als Mandatsgebiet des Völkerbunds dem französischen Kolonialreich zugeschlagen. Ein kleinerer Teil kam aber an das britisch beherrschte Nigeria. Kurz nach der Unabhängigkeit Kameruns wurde im Januar 1961 auf UN-Beschluss eine Volksabstimmung angesetzt, die über den Verbleib von Nord- und Südkamerun bei Nigeria oder die (Wieder-)Vereinigung mit Kamerun entscheiden sollte. Während sich der nördliche Landesteil für einen Verbleib bei Nigeria entschied, stimmten die heutigen Regionen Süd-West und Nord-West mehrheitlich für eine Rückkehr zu Kamerun. Auf der umstrittenen Konferenz von Foumban im Juli 1961 wurde von Vertretern des anglophonen und frankophonen Landesteils daraufhin eine föderalistische Verfassung erarbeitet.
In der Staatspraxis zeigte sich aber schnell, dass der Föderalismus auf dem Papier der Wirklichkeit des zentralistisch-französischen Kolonialerbes und der starken Rolle des Gründungspräsidenten Ahmadou Ahidjo nicht gewachsen war. Mit dem Wandel der Föderation zur zentralistischen Republik durch das inszenierte Verfassungsreferendum von 1972 kam dieser Prozess auch formal zu einem Abschluss. Die Rechte der Anglophonen blieben zwar weitgehend gewahrt – unter anderem besteht ein eigenes Schul- und Rechtssystem – der viel beschworene Bilingualismus blieb aber stets mehr Wunsch als Wirklichkeit. „Kamerun ist bilingual, aber die Kameruner sind es nicht“ lautet ein vielbemühtes Bonmot.
Den Anführern der Bewegung für ein unabhängiges „Ambazonien“ ist es nun gelungen, das Gefühl der latenten Benachteiligung anglophoner Kameruner in eine separatistische Bewegung zu kanalisieren. In den anglophonen Regionen wird die gezwungene Alltäglichkeit von immer wieder aufflammender Gewalt unterbrochen. Häufig gibt es sogenannte „ghost towns“, an ganzen Tagen geht die Bevölkerung nicht auf die Straßen - aus Protest gegen die Regierung, aus Angst vor Schießereien und um nicht als Regierungsunterstützer zu gelten. Die Rebellen haben sich auf einen langsame Zermürbungstaktik eingerichtet. Ziel ihrer Angriffe sind vor allem echte und vermeintliche Regierungsanhänger, sowie Polizisten und Militärs. Oft kommt es zu Lynchjustiz und brutalen Morden an vorgeblichen Regierungsspionen und Kollaborateuren.
Auf der anderen Seite gibt es viele Beweise für Verbrechen der Regierungstruppen. Ganze Dörfer werden als Kollektivstrafe niedergebrannt und ebenso wahllos Jagd auf vermeintliche Rebellenunterstützer gemacht. Zudem gibt es glaubhafte Berichte von Folter und Misshandlungen durch das kamerunische Militär. Während die Regierung wenigstens oberflächlich die größeren Städte noch kontrolliert, haben in den ländlicheren Regionen oftmals bereits die Rebellen vollständig die Kontrolle übernommen. Sie verlangen Schutzgeld von der Bevölkerung und finanzieren sich durch Entführungen und Lösegeldforderungen. Schüler und Studenten, die staatliche Schulen weiter besuchen und sich den Boykott-Aufrufen der Rebellen wiedersetzen, werden als Kollaborateure verfolgt. Auch zwischen verschiedenen Rebellentruppen kommt es zu Auseinandersetzungen. Eine zentrale Führung hat sich noch nicht herauskristallisiert. Humanitäre Hilfe der Regierung und internationaler Organisationen wird von der Bevölkerung kaum angenommen – teils weil man der Regierung nicht traut, teils weil eine Bestrafung durch die Rebellen befürchtet wird. Trotzdem scheint der Rückhalt der Rebellen gerade unter der Landbevölkerung groß. Viele Menschen beteiligen sich an Protesttagen und Protestaktionen, besetzen Polizeistationen und Stadtverwaltungen. Und auch wenn die Methoden der Rebellen auf Ablehnung stoßen, eine Mehrzahl der Anglophonen scheint den Glauben an eine Zukunft in einem gemeinsamen Kamerun bereits verloren zu haben. Die kamerunische Regierung betrachten sie nur noch als Feind, der sie vernichten will.
Wer kann, versucht die Konfliktregionen ganz zu verlassen und in anderen Landesteilen Schutz zu finden. Es wird schon heute mit über 250. 000 Binnenflüchtlingen gerechnet. Doch auch hier bleibt die Situation oftmals schwierig. Vor allem in den Städten der Grenzregionen steigt die Zahl der anglophonen Binnenflüchtlinge stetig an. Ganze Dorfgemeinschaften verlassen das Konfliktgebiet – zurück bleiben oft nur die Alten und Kranken und diejenigen, die sich eine Flucht nicht leisten können. Die Infrastruktur in den Städten ist auf die neuen Einwohner indes nicht vorbereitet – die Preise für Nahrungsmittel und Wohnraum haben spürbar angezogen, die Schulklassen sind überfüllt und die Billiglohnkonkurrenz wächst. Regierung und internationale Organisationen können mit Zahlungen und Lebensmittelhilfen nur einen kleinen Teil der Not lindern. Zudem finden sich viele der Vertriebenen nicht auf den Verteilungslisten wieder. Eine genaue Übersicht über die Anzahl und den Status der vielen Binnenflüchtlinge existiert nirgends. Noch wird den Geflüchteten mit großer Solidarität und Selbstverständlichkeit begegnet. Viele der Geflüchteten fürchten allerdings, dass sich dies mit der Zeit ändern könnte.
Mit den multiplen Krisen konfrontiert, zeigten sich gewaltige Brüche in der scheinbaren Stabilität des kamerunischen Staates. Nach bewährtem Muster wurde die Krise zunächst ignoriert und beschönigt. Nachdem sich der Ernst der Situation nicht mehr leugnen ließ, antwortete das Regime mit militärischer Härte und Repression. Dies verfestigte die Fronten und leistete einer weiteren Radikalisierung Vorschub. Nach fast drei Jahren bewaffneten Konflikt überraschte der Präsident Biya im Herbst mit der Ankündigung eines großen nationalen Dialogs. Während regimetreue Journalisten den Schritt als die überfällige Wiederbelebung des „afrikanischen Palabers“ priesen, kündigten wichtige Oppositionelle ihr Fernbleiben an, wurden an der Teilnahme gehindert oder verließen den Dialog vorzeitig. Vom Vorsitz bis zu den Gesprächsthemen hielt die Regierungen alle Fäden in der Hand. Die fünfttägige Veranstaltung Anfang Oktober offenbarte sich als teuer inszenierte Scheindebatte zur Beruhigung interner und externer Kritiker. Das heiße Eisen einer echten Föderalisierung wurde gar nicht erst angesprochen. Die angekündigte große „Dezentralisierung“ ist hingegen seit Mitte der 90er Jahre ein beliebtes Reformschlagwort. Bis auf eine weitere Ausweitung des Behördenapparats blieben diese Reformen weitgehend ergebnislos, auch weil die Dezentralisierung nie mit der erhofften Demokratisierung einherging.
Es steht auch jetzt zu befürchten, dass für ein Ausbrechen aus dem langen Schatten des Zentralismus kein wirkliches Interesse besteht. Solange ein weitverzweigtes Pfründe- und Paternalsystem dem Regime den passiven Konsens der Kameruner sichert, können die Machteliten weiter ungestört das Land ausbeuten. Ein Anreiz die multiplen Probleme anzugehen, besteht quasi nicht. Als beteiligte Konfliktpartei hat die kamerunische Regierung längst jede Möglichkeit verloren, selbständig eine Lösung der anglophonen Krise herbeizuführen. Hierzu braucht es internationale, von beiden Konfliktparteien anerkannte Mittler. Gerade den europäischen Regierungen sollte es leichtfallen, die von europäischer Militär-, Finanz- und Entwicklungshilfe abhängige Regierung zu einem Einlenken zu bewegen. Dies setzt allerdings voraus, dass sie der anglophonen Krise, die sich seit nunmehr drei Jahren vor aller Augen abspielt, endlich Beachtung schenken
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