Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kameradinnen und Kameraden der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und des Bundes der Antifaschisten,
Wir begehen heute den Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust und erinnern damit an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee am 27. Januar 1945. An diesem Gedenktag stehen die Opfer des Deutschen Faschismus im Mittelpunkt: Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, Aktive des Widerstands, Homosexuelle und viele andere Menschen, die von den Nazis verfolgt und ermordet wurden.
Es ist wichtig, dass wir ihrer Gedenken. Ob dieses Erinnern aber im hier und jetzt Wirkung entfaltet, uns erlaubt Lehren zu ziehen und eine Wiederholung des Vergangen zu verhindern, hängt stark von der Art und Weise unseres Gedenkens ab.
Vor zwei Tagen wurde eine repräsentative Studie veröffentlicht, die Hoffnung für die Zukunft macht. Das Kölner Rheingold-Instituts ermittelte, dass sich in der Gruppe der 16- bis 25-Jährigen 75 Prozent für die NS-Zeit interessierten, deutlich mehr als in der Gruppe der 40- bis 60-Jährigen. Die Elterngeneration lasse die Bedrückung nicht so stark an sich heran wie die jüngeren Studienteilnehmer. Dies sehen die Autoren der Studie darin begründet, dass die junge Generation gerade hautnah erlebe, was geschehen könne, wenn Demokratien weltweit in Gefahr geraten - leider wohl eine zutreffende Beobachtung.
Es gibt allerdings auch andere Studien. Nach der Memo-Studie des Instituts für interdisziplinäre Konfliktforschung der Universität Bielefeld glauben rund 28 Prozent der Deutschen, dass ihre Vorfahren Verfolgten im Nationalsozialismus geholfen haben, rund 68 Prozent der Befragten glauben, dass ihre Angehörigen zumindest nicht unter den Tätern zu finden sind. Weitere rund 35 Prozent der Deutschen glauben gar, ihre Angehörigen hätten selbst zu den Opfern gezählt. Zahlen die sich auch nicht nur annährend mit der historischen Realität in Übereinstimmung bringen lassen. Wie hätten so wenige Täter 12 Jahre lang ein faschistisches Regime in Deutschland und Europa aufrechterhalten können? Warum hätten so viele Helfer nur so wenigen Verfolgten helfen können? Harald Welzer hat es schon vor 20 Jahren mit einem Buchtitel auf den Punkt gebracht, „Mein Opa war kein Nazi“. Eine bequeme Lebenslüge, die noch heute unserer Aufarbeitung im Wege steht.
Ich stimmte daher Samuel Salzborns These aus dem Buch „Die kollektive Unschuld“ zu. Auch wenn an einem Tag wie heute die Opfer im Mittelpunkt stehen sollen, müssen wir uns auch mit Schuld und Tätern auseinandersetzen. Ein Gedenken, dass die Opfer ehrt, ohne die Täter zu benennen, ist zahnlos. Es bewegt sich nicht aus der Komfortzone angenehmer (Selbst-)täuschung. Es ist in jegliche Richtung anschlussfähig – selbst die AfD hat kein Problem, den Opfern zu gedenken. Über die deutschen Täter wollen die neuen Faschisten natürlich nicht sprechen. Diese Ambivalenz des Erinnerns zu meistern, kommt nun der jungen, offensichtlich enorm an der NS-Zeit interessierten Generation zu.
Hier wird sich diese Ambivalenz schon in den eigenen Familienbiografien niederschlagen. Welcher 20 oder 30jährige wird heute noch behaupten können, seine ganze Familie haben entweder nur zu den Opfern oder nur zu den Tätern gehört? Meine Generation vereint Täter und Opfer in sich. Wir dürfen uns daher nicht die wenigen Opferbiographien herauspicken und damit die bequeme Erzählung vom Volk der Unschuld fortsetzen.
Das gilt auch für mich persönlich. Vor einigen Jahren habe ich vor dem Panzer am Deutsch-Russischen Museum zum Tag der Befreiung gesprochen. Ich habe dabei auf die Biographie meiner Familie Bezug genommen. Die Geschichte der Familie Fichtmann, einer Familie Berliner Juden und Kommunisten, durch die Nazis verfolgt und vielfach ausgelöscht. Mir ist diese Erinnerung persönlich sehr wichtig. Ich identifiziere mich mit dieser Familie und ihren politischen Idealen. Und ich sehe mich bei einigem, was ich heute selbst politisch tue, in ihrer Tradition.
Ab auch in meiner Familienbiographie gibt es andere Geschichten. Was haben z.B. meine Uroma, was hat beispielsweise mein Uropa väterlicherseits zwischen 1933-1945 gemacht? Ich weiß es nicht genau. Verfolgte waren sie nicht, wahrscheinlich Mitläufer, vielleicht auch Mittäter. Wenn ich also heute den Opfern gedenke, trage ich diese doppelte Vergangenheit auch in mir.
Diese Uneindeutigkeit sollte uns aber nicht lähmen. Denn nur, wer gleichermaßen Opfer ehrt und Täter benennt, wird den Tätern von heute und den Tätern von morgen etwas entgegenzusetzen haben.